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»Wir stehen hier im ehrwürdigen alten Harvard Yard, in
Rufweite des geschäftigen Harvard Square überschattet vom
gewaltsamen Tod von Bill Davis, des jungen Harvard-
Studenten, der vor weniger als achtundvierzig Stunden auf dem
Rasen vor dem Vorstadthaus seiner Eltern in Brookline brutal
niedergeschossen wurde. Wir sprechen mit Bill Davis
Studienberater, Harvards bekanntem Historiker und Autor
Professor Colin Chandler.« Mit offenem, ernstem Blick sah sie
ihm in die Augen, ganz die seriöse Reporterin, deren Aussehen
er schon oft während der Abendnachrichten bewundert hatte:
scharf geschnittenes Gesicht, sanfte braune Augen, ein paar
kunstvoll drapierte graue Strähnen in dem üppigen
kastanienbraunen Haar, das nach hinten gebunden ihre
Ohren bedeckte. Fast musste er lächeln; dann hörte er ihre
Frage. Er wünschte ihr alles Mögliche an den Hals.
»Stimmt es, Professor Chandler, dass Sie der Letzte waren, der
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Bill Davis an der Universität lebend gesehen hat?«
»Nein, das ist schlicht und einfach falsch, Miss Bishop wie
ich Ihnen gerade ausführlich erklärt habe. Bill wollte am
Nachmittag zu mir ins Büro kommen, aber ich war nicht da und
er ging wieder.«
»Haben Sie eine Ahnung, warum er so verzweifelt versuchte,
mit Ihnen zu reden?«
»Die Verzweiflung ist auf Ihrem Mist gewachsen, Miss
Bishop. So weit ich weiß, war nichts Verzweifeltes an seiner
Nachricht. Ich sollte ihn einfach anrufen. Bei mir hinterlassen
viele eine Nachricht, ohne dass sie danach ermordet werden. Ich
hätte ihn bestimmt angerufen, wenn er noch am Leben gewesen
wäre.«
Ein Grüppchen Studenten blieb stehen. Sie deuteten auf ihn
und grinsten. Er konnte es ihnen nicht übel nehmen. Unter
einem kahlen Baum standen zwei Männer mit ungemütlich
hochgezogenen Schultern im Regen. Sie wirkten seltsam
altmodisch und fehl am Platz, besonders der kleinere in seinem
Pepita-Regenmantel und dem dazu passenden Hut.
Er hörte kaum, was sie sagte: Ärger und Frust über ihr
Vorgehen halfen ihm, ihre Stimme auszublenden. Die Studenten
verloren das Interesse und gingen weiter. Die beiden Männer
stampften mit den Füßen und taten so, als würden sie sich
wegen ihrer Neugier genieren. Chandlers Blick wanderte über
den Yard. Ihm wurde übel bei dem Gedanken, dass einer seiner
Kollegen zufällig auf dieses lächerlichen Schauspiel
aufmerksam werden könnte. Im Aufgang zu Matthews Hall, wo
Chandler als Erstsemester gewohnt hatte, standen noch zwei
Männer, die ihn zum Glück nicht beobachteten. Aus
irgendeinem unverständlichen Grund schienen sie die beiden
unter dem Baum im Visier zu haben. Chandler registrierte einen
Kahlköpfigen mit grauen Flusen über den Ohren, der sich mit
einem weißen Taschentuch über die Glatze wischte.
»Damit vertieft sich das Geheimnis um den Tod von Bill
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Davis«, sagte sie mit der gespielten Dramatik derjenigen im
Tonfall, die jeden Tag neue Horrormeldungen verbreiten. »Es
bleibt die Frage: Warum wollte er Professor Chandler so
dringend sprechen? Das ist nicht sehr ergiebig, aber es ist alles,
was wir im Augenblick haben & « Es folgte eine bedeutsame
Pause, während der Chandler sein eigenes Zähneknirschen
hörte. »Polly Bishop von Kanal 3 Aktuell aus Harvard Yard.«
Das Licht erlosch. Sie ließ seinen Arm los und reichte das
Mikrofon dem Helfer, der es ihr gegeben hatte. Dann wischte sie
sich den Regen vom Gesicht und lächelte Chandler zu, als sei
nichts geschehen.
»Miss Bishop, in den letzten beiden Minuten haben Sie mir
demonstriert, wie vernünftig ein Mord sein kann & « Er spürte,
wie er ungewollt mit den Zähnen knirschte.
»Das gehört zum Showgeschäft, Professor. Knapp, prägnant,
unterhaltsam & nicht unbedingt intelligent oder tief schürfend
oder korrekt. Sie sollten sich freuen über Ihre kleine Theorie.«
Sie griff nach der Vuitton-Tasche, schlüpfte mit ihren eleganten,
schlanken, ringlosen Händen in schmale braune
Lederhandschuhe und sah ihm keck in die Augen. »Aber wir
sind die Nummer eins im Nachrichtengeschäft. Wir sind
Reporter, keine Sprachgenies & Wir schwärmen aus und
dokumentieren die Ereignisse. Und wir berichten nicht nur über
Mord und Korruption in der Stadt oder über Skandale oder über
den Mob. Wir versuchen, etwas dagegen zu tun. In diesem Fall
wollen wir herausfinden, wer Bill Davis getötet hat.« Sie stand
unten an der Treppe und schaute hinauf. Ihre sanften Augen
blitzten wütend. »Hier ist Ihr blöder Schirm.«
Er griff danach und revanchierte sich: »Na, jedenfalls teilen
Sie meine Theorie über das Fernsehen. Sie sind Ihr Geld wert,
Miss Bishop, Nummer eins in Boston & Was immer das
bedeuten mag.«
Er hielt sich an seinem Regenschirm und seiner Aktenmappe
fest und ging. Regentropfen sprenkelten seine Brille.
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»Vielen Dank, dass Sie sich für mich Zeit genommen haben,
Professor.« Sie stellte sich erstaunlich rasch um, ignorierte
einfach die Meinungsverschiedenheit. So etwas war ihm noch
nicht begegnet. »Und wenn Ihnen zu Bill Davis noch etwas
Wichtiges einfällt, wenn irgendwas passiert und glauben Sie
mir, in Mordfällen passiert immer was & « Wieder lief sie ihm
nach. »Rufen Sie mich an, zu Hause oder im Studio.« Sie hielt
ihm ihre Karte hin. Automatisch griff er danach und starrte das
kleine weiße Rechteck an.
»An Ihrer Stelle würde ich keine Informationen von mir
erwarten.«
Sie lächelte unbeeindruckt. »Na, jedenfalls vielen Dank. Und
regen Sie sich nicht auf. Davon kriegen Sie höchstens ein
Magengeschwür, so wie ich.« Sie winkte ihm spitzbübisch zu
und ging wieder zu ihrem Team. Vor dem Tor zur Mass Avenue
sah er einen grün-braunen Kombi mit einer 3 an der Tür stehen.
Motor und Scheibenwischer liefen.
Frustriert zerknüllte er das Kärtchen und warf es weg. Rasch
drehte er sich um und eilte an dem Mann mit dem Pepitahut
vorbei, um so schnell wie möglich aus ihrer Reichweite zu
kommen. Sie ging ihm heftig auf die Nerven. Aber in einem
hatte sie Recht: Seine Meinung über das Fernsehen hatte sich
bestätigt.
Hugh Brennan rief Chandler etwas zu, als er an dem
dunkelroten Ziegelklotz entlang lief, der sich Matthews Hall
nannte. Chandler hatte den Blick zuvor starr auf den Boden
gerichtet, in der Hoffnung, unbemerkt den Schauplatz verlassen
zu können. Der untersetzte, ziemlich kleine Mann trat auf ihn
zu. Sein Aussehen passte zu seiner Persönlichkeit: Er hatte
etwas von einem gutmütigen Haustier, einen Hang zur
Passivität, die aber nur so lange anhielt, bis er Tritt fasste und
sich ins Zeug legte, bereit, bis zum Letzten zu kämpfen. Er
lehrte Englisch. Sein Spezialgebiet war der Roman des
neunzehnten Jahrhunderts, insbesondere die Werke Trollopes.
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Er verzog das runde Gesicht zu seinem gewohnten Grinsen. Sein
rotblondes lockiges Haar klebte nass am Kopf, »Ich hoffe nur,
du hast dieses Schmierentheater nicht mit erlebt«, knurrte
Chandler.
»Doch. Von Licht umflutet hast du da gestanden, mit
grantigem Gesicht, aber resolut. Ein neuer Stern am
Fernsehhimmel, wie Galbraith und Schlesinger. Und erst die
Lady einsame Klasse!« Er bemerkte Chandlers saure Miene.
»Worum ging s denn eigentlich?«
Sein Doppelkinn quoll aus dem schweren
maschinengestrickten Rollkragenpullover. Es sah aus, als säße
sein Kopf direkt auf den Schultern.
Einträchtig nebeneinander schlenderten sie aus dem
Universitätsgelände. Die Autos fuhren nun mit Licht. Es regnete
eintönig vor sich hin.
Chandler beschrieb seinen Fernsehauftritt und meinte zum
Schluss: »Sie hat einfach ignoriert, was ich ihr vorher erzählt
hatte, damit sie mir am Anfang eine gute Frage stellen konnte.
Ob ich der Letzte war, der Bill Davis lebend gesehen hat?
Scheiß-Showgeschäft!«
Brennans Grinsen verschwand. »Du hast den Jungen
tatsächlich gekannt?«
»Eigentlich nicht. Du weißt ja, wie das so ist. Er kam mir
gewieft vor und ein bisschen introvertiert. Ich habe ein paar Mal
mit ihm gesprochen. Aber gekannt habe ich ihn nicht.«
Brennan nickte. »Warum wollte er denn mit dir sprechen? Am
Tag, als er ermordet wurde, meine ich.«
»Keine Ahnung. Er wollte mir was zeigen. Aber er hat nicht
gesagt, was.«
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