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Gemüse und Fleisch von ihren Lieferwagen ab.
»Guten Morgen, Herr Korbinian«, sagte ich und stellte
meine Kaffeetasse auf die hölzerne Ablage von »Karnolls
Back- und Kaffeestandl«, wo es nach Brot und frischen
Brezen roch.
Er nickte mir zu und trank und sah mich über den Rand
der Tasse an.
Ich zeigte ihm das Fernglas. »Gehört das Ihnen?«
»Nein«, sagte er.
»Dann behalte ich es«, sagte ich.
»Für den Fall, Sie wollen mal was ganz aus der Nähe
sehen und trotzdem weit weg sein«, sagte er.
Dann schwiegen wir bis zum Abschied.
»Ich wart noch, bis der Dehner-Zoo aufmacht«, sagte
Korbinian. »Muss schauen, welchen Fisch sie zum
Zierfisch des Monats gemacht haben.«
Ich sagte: »Welcher war es im vergangenen Monat?«
»Die Sumatrabarbe«, sagte Korbinian und rückte seinen
Strohhut zurecht.
»Am Wochenende nach Ihrem Verschwinden haben Sie
Ihre Frau nachts angerufen«, sagte ich. »Und am nächsten
Morgen noch einmal.«
»Das ist möglich«, sagte Korbinian. »Ich möcht Ihnen
verbieten, dass Sie meiner Frau von mir Auskünfte
erteilen, Sie haben mich hier getroffen, wie der Zufall so
spielt, und fertig. Ist das polizeilich möglich?«
»Ja«, sagte ich.
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»Wo warst du denn?«, sagte Sonja Feyerabend.
»Er hat Cölestin Korbinian gefunden«, sagte Volker
Thon, der mir eine halbe Stunde zuvor die gleiche Frage
gestellt hatte.
»Aber warum hast du dich nicht gemeldet?«, sagte
Sonja, und ich sah, wie sie ihre Tränen unterdrückte.
»Ich habe nicht dran gedacht«, sagte ich.
»Und was ist das?«, sagte sie und trat einen Schritt
zurück, als würde ich sie bedrohen.
Ich hielt immer noch das Fernglas in der Hand. Ich hätte
durchschauen können, um die Entfernung zwischen Sonja
und mir zu überbrücken.
Aber ich blieb auf meinem Stuhl am Schreibtisch sitzen,
schrieb den Abschlussbericht meiner Ermittlungen,
schickte einen Vermisstenwiderruf ans Landeskriminal-
amt, löschte die Daten in meinem Computer und schwieg.
Gegen zwölf Uhr mittags rief Olga Korbinian an.
Sie sagte mir, ihr Mann sei wieder aufgetaucht. Und was
die Geliebte betreffe, von der sie gesprochen habe: »Die
hab ich erfunden, das war tröstlich für mich.«
Ich sagte: »Wie geht es Ihrem Mann?«
»Er hat Hunger, ich hab Fleischpflanzerl gemacht«,
sagte sie. Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Aber das
Schönste ist, er hat sich überhaupt nicht verändert.«
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n diesem Zimmer, in dem ich manchmal wünsche, ich
I hätte der Liebe mehr Ehrfurcht erwiesen, ist es still.
Die Gäste schlafen, die Bar hat bereits geschlossen, es ist
lang nach Mitternacht. Noch immer besitze ich keine Uhr.
Obwohl ich allein lebe, bin ich umgeben von Zeit und
umzingelt von Terminen. An Cölestin Korbinian zu
denken löst in mir eine beschwingte Erinnerung aus, ich
gehe auf und ab, berühre mit der flachen Hand die Wände
und lehne meine Stirn gegen das kühle Glas der Balkontür
und dann setze ich mich für eine Minute oder zwei auf
meinen einzigen Stuhl, schlage die Beine übereinander
und lege die Hand aufs Knie.
Von diesem Platz aus blicke ich ungeniert über die
Dächer und Straßen der Stadt, die ich verlassen habe, und
es ärgert mich ein wenig, dass ich vergessen habe,
Cölestin Korbinian zu fragen, auf welcher Seite der
Fraunhoferstraße er jeden Morgen zu seinem Postamt
ging. Ich bin sicher, auf der linken, aber ich weiß es nicht.
Bestimmt hat er die Seite bis heute nicht gewechselt.
Martin Heuer fragte mich nach Einzelheiten, und ich
erklärte, Korbinian habe sich um die Häuser getrieben,
was in gewisser Weise stimmte. Pünktlich erschien Martin
nach zwei Wochen Zwangsurlaub zum Dienst, er sah
bleich und alt aus und roch nach Alkohol und dem Moder
ungelüfteter Nachtbars. Auf die Frage, ob er sich von dem
Vorfall im Kaufhaus einigermaßen erholt habe, sagte er ja.
Ich hasste ihn wegen seiner Lügen. Und ich hasste ihn
wegen seines Aussehens. Und wegen seines Zitterns und
wegen seines Trinkens. Und wegen seines Schwitzens und
wegen seiner Obdachlosigkeit in meiner Nähe. Und als
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wir mit der Vermissung eines sechsjährigen Mädchens*
konfrontiert wurden, verwandelte mich der Hass in einen
Fremden, dessen Schatten ich noch heute werfe, wenn ich
zu lange durch alte Sommer streife und über den Friedhof
meiner Versäumnisse.
Nastassja war der Name des sechsjährigen Mädchens, und
Martin wollte ihr Schutzengel sein. Aber er schlug seine
Flügel entzwei, und ich misshandelte einen Verwundeten.
*
Diese Geschichte erscheint als nächster Band unter dem Titel
»Süden und das verkehrte Kind«
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